Potenzial vor Lehreintritt klären

Mit der Integrationsvorlehre (INVOL)1 will der Bundesrat die Arbeitsmarktfähigkeit und -integration von anerkannten Flüchtlingen und vorläufig aufgenommenen Personen ab dem 21. Altersjahr nachhaltig verbessern. Auch der Kanton Aargau etabliert ein entsprechendes Programm. Neben Motivation und Deutschkenntnissen sind berufspraktisches und persönliches Potenzial der interessierten Personen für eine Teilnahme ausschlaggebend.

Mit Spezialisten für Arbeitsmarktintegration wird vorgängig im Rahmen einer vierwöchigen Abklärung die Fähigkeiten und Grenzen der Kandidatinnen und Kandidaten beobachtet und getestet. Einer dieser Spezialfirmen ist die Stiftung Wendepunkt.

Empfehlung ja oder nein

31 Personen hat das Departement Bildung, Kultur und Sport (BKS) der Stiftung Wendepunkt von Februar bis Ende Juni 2018 für eine Potenzialabklärung zugewiesen. Während dreier Wochen arbeiten die zu Prüfenden intern. In einer weiteren schnuppern sie in einem externen Betrieb. «Mit den Beobachtungen dieser drei bis vier Wochen verfassen wir einen Bericht zuhanden des BKS mit einer Empfehlung für oder gegen eine Integrationsvorlehre. Danach ist unser Auftrag erledigt», erklärt Renato Mazzei, zuständige Person fürs Angebot in der Stiftung Wendepunkt. Bis jetzt haben zwei Person ein «Nein» erhalten. Ob alle anderen im August mit der Integrationsvorlehre im ersten Arbeitsmarkt beginnen können, entscheidet das BKS.

«Die Integrationsvorlehre ist Türöffner für eine berufliche Grundbildung und bahnt den Weg in die Erwerbsintegration und in die finanzielle Unabhängigkeit.»

Unterschiedliche Bildungsbiografien

Zurück zu den beiden Kandidaten: Seit ihrer Ankunft in der Schweiz 2015 haben Mohosen und Mahdi Deutschkurse besucht. Nach der Potenzialabklärung werden sie den angefangenen Integrationskurs «Grundkompetenzen» abschliessen, bevor sie, so hoffen sie, die Vorlehre antreten können. Ihre Voraussetzungen sind unterschiedlich. Während Mohosen in seinem Herkunftsland sechs Jahre die Schule besucht hat sowie Arbeitserfahrung auf Baustellen und als Schneider mitbringt, sieht es bei Mahdi ganz anders aus: Arbeitseinsätze in der Landwirtschaft und als Maurer, aber keine Schulbildung – so sein Portfolio. In der Schweiz angekommen, wusste er nicht, wie ein Dokument zu unterschreiben ist, berichtet er.

Mohosen stellt dem externen Einsatz in einem renommierten Hotel der Region fest, dass er zukünftig doch lieber auf Baustellen als in Küchen hantieren möchte.

Potenzial auf dem Prüfstand

Für die Potenzialabklärung ist Mohosen in der Kantine und Mahdi in der Fensterladenrenovation am Standort Arbeit Wettingen eingeteilt. Während des internen als auch externen Einsatzes wird Verschiedenes geprüft: Verstehen sie einen Arbeitsauftrag? Wie steht es um ihre Fein- und Grobmotorik? Wie gehen sie mit Werkzeugen und Maschinen um? Können sie Routine entwickeln und ihre Leistung steigern? Kommen sie pünktlich und regelmässig zur Arbeit? Aber auch soziale Kompetenzen wie Team- und Kritikfähigkeit, Motivation und Ausdauer werden beobachtet. Und last but not least: Bringen sie die Fähigkeit mit, ihre Deutschkenntnisse laufend zu verbessern, damit Vorlehre und anschliessende Grundbildung gelingen?

Zwei Fliegen auf einen Schlag

Durch die Potenzialabklärung lernen die beiden Männer nicht nur ihre Ressourcen, sondern auch die Anforderungen des Schweizer Arbeitsmarktes besser kennen. Unisono stellen sie fest, dass Qualität, verbunden mit exaktem und schnellem Arbeiten, sowie Pünktlichkeit und gute Sprachkenntnisse absolut wichtig sind. Zudem haben sie die Gelegenheit zu überprüfen, ob das gewählte Berufsfeld – bei Mohosen die Gastronomie und bei Mahdi die Logistik – das richtige ist. Sich beruflich festlegen zu müssen, ist für sie nicht einfach, sind doch die Berufe im Heimatland mit jenen in der Schweiz oft nicht vergleichbar. Und so kommt es, dass Mohosen nach dem externen Einsatz in einem renommierten Hotel der Region Baden feststellt, dass er zukünftig doch lieber auf Baustellen als in Küchen hantieren möchte.

Mahdi arbeitete im Iran in der Landwirtschaft und als Maurer, hat aber keine Schulbildung. Bei der Fensterladenrenovation kommt ihm sein handwerkliches Geschick zu Gute.

Positive Bilanz für beide

Am Ende der vier Testwochen sind sich die Begleitpersonen der Stiftung Wendepunkt und dem externen Einsatzplatz einig: Die beiden Kandidaten bringen die Voraussetzungen für die Integrationsvorlehre mit, obwohl Deutsch und Arbeitsqualität noch besser werden müssen. «Deshalb ist es gut, dass sie nicht einfach in eine Lehre vermittelt werden», meint Michelle Lauterburg, zuständige Fachperson Beratung und Integration in der Stiftung Wendepunkt Wettingen, «sondern ihr Potenzial geprüft wird und sie während eines Jahres intensiv auf die Grundbildung vorbereitet werden.» Die erste Hürde haben Mohosen und Mahdi also geschafft. Sie werden auch die zweite meistern, wenn sie weiterhin mit Lerneifer, Ausdauer und Einsatz ihren Weg beschreiten. Viel Glück!

1 Integrationsvorlehre (INVOL) für anerkannte Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Personen ab dem 21. Altersjahr: Sie dient als Vorbereitung auf die berufliche Grundbildung. Teilnehmende besuchen wöchentlich an zwei Tagen den Unterricht an einer Berufsfachschule und arbeiten die restlichen drei Tage in einem Betrieb. Die INVOL kann im Kanton Aargau grundsätzlich in den Berufsfeldern Gastronomie, Logistik, Landwirtschaft sowie Garten- und Landschaftsbau absolviert werden. Ausserdem stehen zwei Plätze im Gleisbau und in der Baubranche zur Verfügung. Weitere Details unter www.ag.ch

2 Berufliche Grundbildung EBA oder EFZ: Zweijährige berufliche Grundbildung mit eidg. Berufsattest (EBA) oder drei- resp. vierjährige berufliche Grundbildung mit eidg. Fähigkeitszeugnis (EFZ).


Regine Frey-Eichenberger
Autorin