Leben und Lernen in Gemeinschaft

Manchmal braucht es wenig, um die Balance zu verlieren: Ein belastendes Ereignis oder übergrosse Sorgen ziehen einem den Boden unter den Füssen weg. Burnout, Depression oder Verwahrlosung können mögliche Folgen sein. Rico und Beatrice kennen dies. Beide auf unterschiedliche Art und Weise. Hier berichten sie davon – und über ihren Weg zurück ins Leben.

Markus Schor, Leiter der Wohngemeinschaften, gibt Einblick in seinen WG-Alltag und was es heisst, zurzeit elf Frauen und neunzehn Männer auf diesem Weg zu begleiten.

Zurück zur Selbstständigkeit

Es ist sechs Uhr. Rico steht auf, trinkt in Ruhe zwei Kaffees – sein tägliches Morgenritual –, weckt schnell den Mitbewohner, bevor er Wohnung und Haus verlässt. Bus und Bahn bringen ihn zur Arbeit nach Muhen. In der Montage Logistik der Stiftung Wendepunkt arbeitet er 80 Prozent, verteilt auf fünf Arbeitstage. Deshalb ist er bereits im Laufe des Nachmittags wieder in der Wohngemeinschaft (WG), erledigt Ämtli und Haushalt, bevor er ein Gespräch mit der internen Bezugsperson oder dem externen Therapeuten hat. Während neun Jahren hat der 31-jährige Vater zweier Kinder in einer namhaften Recycling-Firma gearbeitet. Plötzlich kommt sein Leben ins Stocken. Nichts geht mehr. Diagnose: psychische Erkrankung und Burnout.

Seit Anfang 2016 lebt Rico in der WG Shalom in Buchs. Mit dem Mitbewohner seiner Wohneinheit versteht er sich. Einkaufen und Kochen machen sie gemeinsam, achten dabei auf ausgewogene Ernährung. Nicht nur Fleisch und Pasta, auch Salat kommt auf den Teller. Wöchentlich spielt Rico Unihockey. Sonntags besucht er meistens seine Kinder. Ab und zu leistet er sich einen Kino- oder Matchbesuch bei seinem Fanclub, dem SC Bern.

Ende März zieht Rico weiter – in eine eigene Wohnung. Guten Mutes visiert er neue Ziele der Selbstständigkeit an: eine Lehre als Karosseriespengler, die Finanzen wieder selber verwalten und für die Alimente der Kinder aufkommen können.

Zurück ins Leben

«Mach am besten, was sie sagen.» Diese Worte des 80-jährigen Vaters begleiten sie auf ihrem Weg in die WG Domicilio. Worte, die sich bei ihr tief einprägen und für die Zukunft richtungweisend sind. Beatrice, 51-jährig, Mutter eines erwachsenen Sohnes, Grossmutter eines zweieinhalb Jahre alten Enkels, verwitwet, sieht keinen Sinn im Leben mehr: morgens aus dem Bett, vor den Fernseher, hinter den Kühlschrank. Sie vernachlässigt sich, nimmt keine Arzttermine wahr, bezahlt keine Rechnungen mehr. Aus Verzweiflung und Überforderung schlägt sie sich, gibt sich gänzlich auf. Der totale Ruin.

Inzwischen lebt Beatrice bereits zwei Jahre in der WG. Gut erinnert sie sich noch an den ersten Arbeitstag in der Montageabteilung der Stiftung Wendepunkt – ein absoluter Glücksmoment: Nach 10 Jahren wieder einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben bedeutet, zurück ins Leben zu kommen. Trotz Sehbehinderung gelingt ihr die manuelle Arbeit. Ein Beweis, dass sie einsatzfähig ist und etwas kann. Ihr helles Zimmer – ein Ort zum Nachdenken und Verarbeiten – bedeutet ihr viel. Daneben schätzt sie das Zusammenleben mit ihrer Mitbewohnerin und ihrem Mitbewohner. Gemeinschaft erleben sieht sie heute als Bereicherung und als Lernort – nämlich, um andere akzeptieren und mit Konflikten umgehen zu lernen. Dankbar über das neugewonnene Leben mit Arbeit und Hobbys, dem Miteinander in der WG und ihrem neuen Freund schaut sie in die Zukunft. Das Domicilio ist ihr Zuhause und wird es auch noch für eine gewisse Zeit bleiben.

Mit Herzblut leiten und begleiten

Markus Schor ist ein Beziehungsmensch, liebt den Kontakt zu Menschen sowohl beruflich als auch privat. Nach einem knapp siebenjährigen Unterbruch ist er 2012 wieder zur Stiftung Wendepunkt zurückgekehrt. Der Arbeitsagoge und Heimleiter hat die Stelle als Leiter der Wohngemeinschaft Domicilio in Muhen angetreten. Eine Funktion, die ihm entspricht, weil sie Administration, Organisation und das Begleiten von Menschen, Team und Bewohnerinnen und Bewohnern, verbindet. Seit Oktober 2017 gehört auch die Wohngemeinschaft Shalom in Buchs zu seinem Verantwortungsbereich. Beide Häuser bieten zusammen insgesamt 32 betreute Wohnplätze an. Der Kanton hat den Platzausbau bewilligt, da der Bedarf an betreuten Wohnplätzen steigt. Dank geringfügiger baulicher und konzeptioneller Anpassungen hat es umgesetzt werden können.

Zwei Wohngemeinschaften unter einer Führung hiess für die beiden Teams zu einem zusammenzuwachsen. Für Bewohner mit mehr Betreuungsbedarf galt es in die WG Domicilio umzuziehen, für selbstständigere in der WG Shalom zu bleiben. Diese Prozesse sind einschneidend, brauchen Zeit und Geduld. Rückblickend schaut Markus Schor aber auf ein gutes Jahr ohne Nachteinsätze und mit nur einer Bewohnermutation am Standort Muhen zurück.

Fünf Frauen und vier Männer bilden das Team. Ihre Arbeit ist intensiv – sie ergänzen sich gut, was vieles erleichtert. Auch für die Zukunft haben Schor und sein Team gesorgt: Da die ihnen zugewiesenen Menschen tendenziell auf zunehmende Unterstützung angewiesen sind, halten sie ein Angebot bereit, bei welchem sie intern eine Tagesstruktur anbieten und die Betreuungsleistung erweitern könnten. Dieses Vorausdenken entspricht Markus Schors Leitungsverständnis und Wesen im Sinne von «the future belongs to those who prepare for it today» (Malcolm X).

Mehr zum Angebot
Betreutes Wohnen | Stiftung Wendepunkt


Regine Frey-Eichenberger
Autorin