Dinge loswerden leicht gemacht

In der hintersten Ecke meines Geschirrschranks steht sie – die Tortenplatte mit eingeritztem Muster und Glasfüsschen! Trotz ihres vintageähnlichen Outfits fristet sie eher ein trostloses Dasein und kommt nur selten zum Einsatz. Das soll sich nun ändern! Ich hole sie hervor, packe sie ins Auto und bringe sie nach Muhen.

Seit Januar kann man dort Inline Skates, ältere Smartphones, nicht mehr benötigte Spielsachen, Haushaltartikel und vieles mehr bei der Stiftung Wendepunkt an der Nidermattstrasse 2 vorbeibringen. Jedoch nur Gegenstände, die es wert sind, verkauft zu werden.

Projekt Restwert heisst die Dienstleistung. Entwickelt von der Ideenfabrik Grundlagenwerk1, betrieben als Social Franchising2 von der Stiftung Wendepunkt. Eine geniale Idee für alle, die in Estrich oder Keller nach Gegenständen suchen und sich für den Verkauf nicht mit Ricardo, Ebay oder Tutti herumschlagen wollen. 

Ade Tortenplatte

Bereits vor dem Haupteingang winkt mir das Projekt Restwert in Form einer Beachflag entgegen. Ich gehe zum Empfang. Die Mitarbeiterin nimmt meine Tortenplatte entgehen. Sie prüft ihren Zustand: ein paar Kratzer auf der Oberfläche. Ansonsten ist der Zustand gut. Sogleich fragt sie mich nach meiner Preisvorstellung. Keine Ahnung! Wir einigen uns, dass die Restwert-Mitarbeitenden den Wert recherchieren und dann den Mindestverkaufspreis festlegen. Die Tortenplatte erhält eine Etikette mit Artikelnummer und dem Preishinweis. Bevor ich das Personalienblatt ausfülle, werde ich über das weitere Vorgehen und die Geschäftsaussichten informiert: Wenn der Verkauf zustande kommt, erhalte ich 50 Prozent des Erlöses. Keine schlechte Aussicht! Ich verabschiede mich und werfe einen letzten Blick auf m… äh die Tortenplatte. Sie geht nun auf Reisen zu einer – so hoffe ich – neuen glücklichen Besitzerin.

  1. Die Tortenplatte geht auf Reisen. Hoffentlich zu einer neuen Besitzerin! Die Artikeletikette wird ausgefüllt.
  2. Damit die Portokosten für den Versand berechnet werden kann, wird die Tortenplatte gewogen.
  3. Nun wird der Artikel im System erfasst.
  4. Auch das gehört dazu: Fotoshooting für den Artikel.
  5. Die Tortenplatte wird ins beste Licht gerückt, sprich das Bild wird bearbeitet.
  6. Das Inserat peppig und aussagekräftig formulieren – danach geht der Artikel auf ricardo.ch online. Nun wartet die Tortenplatte in einer Box bis sie verkauft oder ihre Verkaufsfrist abgelaufen ist.

Projekt Restwert – nachhaltig und sozial

Schon seit Längerem sucht die Stiftung Wendepunkt Tätigkeiten, die auf Jugendliche des Motivationssemesters SEMO noch besser zugeschnitten sind. Mit dem Projekt Restwert ist sie diesbezüglich fündig geworden. Es vereint neben vielseitigen Arbeitsplätzen, dem Know-how aus administrativem und logistischem Bereich auch soziale und ökologische Aspekte. Wenn Jugendliche die Prozesskette – Kundenkontakt, Administration, Material- und Warenbewirtschaftung, Social Media und Logistik – aus erster Hand erleben und daran mitarbeiten, lernen sie viele Kompetenzen, die sie zukünftig in einer Ausbildung, einer Lehr- oder Arbeitsstelle anwenden können. Die Dienstleistung dient aber nicht nur den Jugendlichen, sondern auch der Bevölkerung. Für Letztere ist sie ein angenehmer Weg, den bestmöglichen Restwert aus eigenen, nicht mehr benötigten Produkten zu erhalten und gleichzeitig die Arbeitsintegration von Jugendlichen zu unterstützen.

«Da ich gerne eine Lehre als Logistiker machen würde, gibt mir das Projekt Restwert einen guten Einblick in die logistischen Abläufe. Was ich hier besonders gerne mache: Die Artikel fotografieren und die Bilder danach bearbeiten.»

Bojan, SEMO-Teilnehmer

Hinter den Kulissen

Seit Januar ist das Projekt Restwert nun in Betrieb. Die Warenannahme ist beim Empfang. Die Büro- und Logistikarbeiten sind dem Bereich Montage Logistik angegliedert. Insgesamt sechs Arbeitsplätze stehen zur Verfügung, zurzeit arbeiten drei Jugendliche mit. Die Arbeit ist vielseitig und abwechslungsreich. Einerseits wegen der verschiedenen Arbeitsstationen, anderseits, weil jeder Artikel wieder anders ist. Angenehm ist zudem, dass das Team die Anzahl der Aufträge etwas «steuern» kann. «Das gibt Druckentlastung und die Möglichkeit, Klientinnen und Klienten optimal zu fördern, was eines der Hauptziele der Arbeit ist», meint Gruppenleiter David Heimberg. Auch saisonale Schwankungen können dadurch besser ausgeglichen werden. Eingegangene Skischuhe werden zum Beispiel im Winter sofort online gestellt. Hingegen kann ein Kindervelo gut erst ab Mitte März auf Ricardo platziert werden.

«Die eingetroffenen Gegenstände eingehend zu prüfen und Informationen darüber zu suchen, finde ich spannend. Dank täglicher Arbeit am Computer erweitere ich laufend meine EDV-Kenntnisse.»

Lenny, SEMO-Teilnehmer

Der Verkaufsweg

Zurück zu «meiner» Tortenplatte. Sobald sie in den Büroräumlichkeiten von Restwert eintrifft, wird sie im internen System katalogisiert. Zu diesem Zweck prüft man sie nochmals eingehend. Zum Berechnen der Versandkosten bei einem Verkauf wird sie gewogen sowie der Preis definitiv festgelegt. Bei der Fotostation – je nach Gegenstand vor weissem oder schwarzem Hintergrund – wird sie ins beste Licht gerückt. Es folgt die Recherche: Informationen zum Artikel werden im Internet gesucht. Mit einem aussagekräftigen und peppig formulierten Inseratentext wird sie anschliessend auf der Onlineplattform Ricardo zum Verkauf angeboten. Über den weiteren Verlauf bis zur Abwicklung des Verkaufs werde ich regelmässig informiert.

Auktion gelungen?

Leider hat es bei diesem einen Artikel nicht geklappt. Der Versuch hat sich dennoch gelohnt. Erstens, weil Jugendliche durch meinen Auftrag etliches gelernt, Verantwortung gegenüber dem Kunden wahrgenommen, Sinnhaftes getan und einmal mehr Arbeitsmarktluft geschnuppert haben. Zweitens habe ich ein durchdachtes und unterstützenswertes Projekt kennengelernt.

Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses verzeichnet das Projekt Restwert bereits 230 verkaufte Artikel mit einem Totalverkaufspreis von CHF 9‘164.90.

Überzeugt und angespornt? In diesem Fall in den Estrich oder Keller gehen, nach überflüssigen Dingen mit «Wert» suchen und nach Muhen bringen. Es lohnt sich. Viel Erfolg!

«Das Motivationssemester im Projekt Restwert gibt mir eine Tagesstruktur. Darüber bin ich sehr dankbar. Für die Artikel das passende Inserat zu formulieren und auf Ricardo zu publizieren – eine Arbeit, welche mir gefällt.»

Dani, SEMO-Teilnehmer

Mehr zum Angebot
Muhen – Projekt Restwert (projekt-restwert.ch)
Motivationssemester SEMO

1 Grundlagenwerk ist eine Ideenfabrik und Konzeptschmiede für soziale Innovation. Sie entwickelt Betriebskonzepte für gelingende soziale und berufliche Integration. grundlagenwerk.ch

2 Social Franchising ist verwandt mit dem kommerziellen Franchising, zielt aber vor allem auf sozialen Profit ab. Der Entwickler eines erfolgreichen Pilotprojekts berechtigt als Franchisegeber andere (Franchisenehmer) dazu, das Projekt zu übernehmen und das bereits erprobte System sowie den Markennahmen zu nutzen.


Regine Frey-Eichenberger
Autorin