Auf eigenen Füssen stehen lernen

Gastronomie in Muhen. Die Vorbereitungen fürs Mittagessen laufen auf Hochtouren. In gut zwei Stunden werden die ersten Gäste eintreffen – bis dann muss alles bereit sein. Täglich verköstigt die Kantine der Stiftung Wendepunkt zirka 200 Personen. Da wird einiges gewaschen, gerüstet, geschnitten, gehackt, gekocht, gebraten und gerührt werden. Neben dem Tagesküchenchef und einem Gruppenleiter sind heute zehn Klientinnen und Klienten im Einsatz.

Omid arbeitet zum Beispiel in der sogenannten kalten Küche. Flink schneidet er Karotten ganz fein, welche dann zu Salat verarbeitet werden. Manchmal hilft er beim Pausenverkauf mit, übergibt Kunden ihr ausgewähltes Sandwich zusammen mit einer Serviette und wünscht guten Appetit – eine Tätigkeit, die ihm bekannt ist, hat er doch in seinem Heimatland auch als Kioskverkäufer gearbeitet.

Oberste Priorität: Integration

Der Mann aus Afghanistan ist seit April in der Gastronomie, weil er am Arbeitsmarktintegrationsprogramm für spätimmigrierte Jugendliche und junge Erwachsene1 teilnimmt. Vor dem Eintritt in die Stiftung Wendepunkt hat Omid, seit 2015 in der Schweiz, bereits Deutschkurse und den Integrationskurs bei einem Erwachsenenbildungsinstitut besucht. Die Teilnahme am Arbeitsintegrationsprogramm – der Name weist darauf hin – hat zum Ziel, dass es Omid gelingt, Fuss im ersten Arbeitsmarkt zu fassen, um dadurch für seinen Lebensunterhalt selber aufkommen zu können.

Arbeit und Bildung Hand in Hand

Während der ersten drei Monate eignen sich Klientinnen und Klienten wie Omid an praxisnahen internen Arbeitsplätzen Fachwissen an. Sie lernen, pünktlich und zuverlässig zur Arbeit zu kommen und ihre Arbeitsleistung zu steigern. An zwei Tagen pro Woche besuchen sie den Deutschunterricht und den Kurs Grundkompetenzen mit Alltagsmathematik, PC-Kenntnissen sowie bewerbungs-, arbeitsmarkt- und persönlichkeitsorientierten Themen.

Freitagnachmittag, Kurs Grundkompetenzen: Sieben junge Männer sitzen an Pulten und neigen sich übers Arbeitsblatt «Umfang von Rechtecken berechnen». Unter ihnen auch Omid. Mathematik steht auf dem Programm, bevor nach der Pause im PC-Raum an ausgewählten Aufträgen individuell gearbeitet wird. Er entscheidet sich, sein Bewerbungsdossier zu vervollständigen. Unterstützt durch die Modulleiterin, ergänzt er seinen Lebenslauf, scannt Kursbestätigungen ein und speichert sie auf seinem USB-Stick ab. Das Foto auf dem Lebenslauf wird in der kommenden Woche aktualisiert, dann ist sein Dossier komplett. Beendet wird der Schultag mit einem Eintrag ins persönliche Lernjournal. Omid notiert, was er gelernt hat und noch weiter vertiefen möchte. Zum Schluss legt er sämtliche Tagesunterlagen im persönlichen Ordner unter dem entsprechenden Register ab – etwas, das auch gelernt werden will.

  1. Auszug aus dem Tagesprogramm des Bildungsmoduls am 1. Juni 2018 in Muhen.
  2. Marianne Baumberger, eine von rund 30 Kursleitenden der Stiftung Wendepunkt, vermittelt Lehrstoff und coacht den Lernprozess …
  3. … auch mit fremdsprachigem Lehrmittel.

Aufs Ziel fokussiert

Omid schätzt die Tagestruktur mit Arbeit und Bildung und freut sich über jeden Fortschritt. Ein Praktikum ab August, vermittelt durch die Stiftung Wendepunkt, ermöglicht ihm erste Erfahrungen im primären Arbeitsmarkt zu machen. Gleichzeitig beginnt er sich, unterstützt durch den Job Coach, auf Stellen zu bewerben. Die beiden Schultage besucht er weiterhin.

Herausfordernd sei oft die Zuteilung der richtigen Branche, erklärt Heinz Schmocker, Fachperson Beratung und Integration in der Stiftung Wendepunkt. Seit zwei Wochen äussert Omid den Wunsch, als Autolackierer zu arbeiten, ein Job, den er in der Garage seines Bruders ausgeführt hat. Heinz Schmocker klärt nun ab, ob er in der betriebseigenen Garage einen Schnuppereinsatz machen kann, bevor es dann ins externe Praktikum geht. Bei all diesen Prozessen ist viel Fingerspitzengefühl gefragt, gilt es doch, dem Klienten aufzuzeigen, wo er die besten Chancen auf eine Arbeitsmarktintegration hat.

«Die Gastronomiebranche bietet hierzu gute Möglichkeiten. Mit diesem Erfahrungsschatz ist es einfacher, später etwas anderes zu finden.»

Heinz Schmocker, Fachperson Beratung und Integration Stiftung Wendepunkt

Ob sich der Traum vom Autolackierer für Omid einst erfüllen wird, bleibt zurzeit offen. Spürbar ist aber, dass der junge Mann ein Ziel hat und alles daransetzt, dieses zu erreichen. Seine in den knapp drei Jahren erworbenen Deutschkenntnissen zeugen davon.

Mehr zum Angebot
Asylbeschäftigungsprogramm | Stiftung Wendepunkt
Arbeitsmarktintegrationsprogramm | Stiftung Wendepunkt

1 Personen, die erst nach vollendetem 16. Altersjahr in die Schweiz einreisen, können nicht mehr in die Volksschule eintreten. Für diese Personengruppe gibt es spezifische Angebote, welche vom Amt für Migration und Integration (MIKA) finanziell getragen werden. Eines ist das Arbeitsintegrationsprogramm für Spätimmigrierte und junge Erwachsene im Alter zwischen 16 und 25 Jahren.
Das Programm mit dem Ziel einer Feststelle zu orts- und branchenüblichem Lohn umfasst Folgendes:
– Arbeitstraining mit integrierten Bildungstagen (Deutsch, Grundkompetenzen) bei einem Anbieter arbeitsmarktlicher Massnahmen und an einem externen Einsatzplatz im primären Arbeitsmarkt. Dauer max. sechs Monate.
– Weiterführen des externen Einsatzes im primären Arbeitsmarkt mit Coaching, Bildungstagen und einer Entschädigung. Maximale Dauer sechs Monate.


Regine Frey-Eichenberger
Autorin