Als Gehörloser zurück im Arbeitsmarkt

Der 11. Juni 2018. Ein spezieller Moment für Pierre – sein erster Tag als Mitarbeiter der Ferroflex AG in Rothrist. Ein externer Einsatz, vermittelt durch die Stiftung Wendepunkt, hat ihm vor vier Monaten die Tür dazu geöffnet. Die Firma und er haben Neuland betreten: Ferroflex beschäftigt eine gehörlose Person; Pierre arbeitet in einer für ihn neuen Branche.

Das Experiment glückt auf Anhieb. Ferroflex-Betriebsleiter Stephan Gerhard drückt es so aus: «Es ist ideal, wenn ein Arbeitsplatz so gestaltet ist, dass daraus ein Gewinn für beide Seiten resultiert.»

Rückblende

Die Arbeitszeiten als Bäcker-Konditor zerren an Pierres Gesundheit. Nach 27 Backstubenjahren fällt die Entscheidung: Er kündigt sein Arbeitsverhältnis. Im Januar 2018 dann der Eintritt via Regionale Arbeitsvermittlungsstelle (RAV) in die Logistik der Stiftung Wendepunkt in Rothrist. Ziel: berufliche Neuorientierung. Eine gehörlose Person1 – für die Belegschaft der Stiftung Wendepunkt ein Novum: Mit Pierre muss sehr deutlich und langsam Hochdeutsch gesprochen werden. Bei Arbeitsanweisungen in Gruppen wird im Einzelgespräch nachgefragt, ob er alles verstanden hat. Vorausschauendes Planen und zusätzliche Absprachen sind unumgänglich, auch weil verschiedene Fachstellen in die Begleitung involviert sind. Pierre, seit Geburt gehörlos, wirkt ob all dem entspannt und trägt vieles zum Gelingen bei: Er liest mühelos von den Lippen seines Gegenübers und fragt nach, wenn etwas unklar ist. Für wichtige Gespräche mit RAV- und IV-Beratenden und für den Besuch des Staplerkurses organisiert er einen Gebärdensprachdolmetscher über den Dolmetscherdienst Procom, deren Kosten von der IV übernommen werden.

Ausblick

Im Februar meldet sich die Ferroflex AG, einen Steinwurf von der Stiftung Wendepunkt in Rothrist entfernt, bei Job Coach Toni Fankhauser: Sie suche einen Mitarbeiter fürs Entgraten von Metallteilen. Der Arbeitsplatz sei wegen der nahen Brennschneideanlage lärmig und die Arbeit schmutzig. Fankhauser und Tobias Lerch, Fachperson Beratung und Integration, beraten sich. Ob dies wohl eine Arbeit für Pierre wäre? Nach gemeinsamen Gesprächen steht fest: Lärmiger Arbeitsplatz – kein Handicap für den Gehörlosen. Schmutzige Arbeit – ebenfalls kein Hindernis. Die vereinbarte Schnupperzeit mündet schnell in den externen Einsatz. Dies bedeutet, dass Pierre neben der neuen Tätigkeit auch das Umfeld genauestens zu erfassen hat. Denn viele Situationen, die für Hörende selbstverständlich sind, werden für Gehörlose zur Herausforderung. Da das Gehör nicht funktioniert, müssen die Augen dies zu einem grossen Teil kompensieren. Deshalb bewegt Pierre seinen Kopf viel hin- und her und beobachtet äusserst aufmerksam, was um ihn herum läuft. Das selbstständige Arbeiten gemäss schriftlicher Anweisung kommt ihm da entgegen: bei herausgebrannten Metallteilen die sogenannten «Gräte», also Unregelmässigkeiten bei den Rändern nach dem Brennprozess, von Hand nachschleifen und die fertigen Teile den entsprechenden Aufträgen zuordnen. Dabei sind Präzision, Sauberkeit und Ordnung gefordert – Kompetenzen, die er mitbringt und die ihm unter anderen zur Anstellung verholfen haben.

«Viele unterschiedliche Personen haben mich unterstützt, so dass ich heute bei Ferroflex eine Arbeitsstelle habe.»

Pierre

Happy End

Mittlerweile kommt Pierre mit allem gut zurecht. Im Team ist er ebenfalls bestens integriert. Einzig der andersfarbige Helm, Kennzeichen seiner Gehörlosigkeit, unterscheidet ihn von seinen Kollegen. Künftig soll sein Arbeitsgebiet sogar erweitert werden, indem er an der Brennschneidemaschine Metallteile herstellt, welche er nachher entgratet.

Pierre befindet sich wieder auf stabilem (Arbeits-)Kurs. Keine Selbstverständlichkeit, da es viele Gehörlose nicht in den ersten Arbeitsmarkt schaffen2. Ein beachtlicher Erfolg also! Er ist sich dessen bewusst, auch, dass dies dank der Unterstützung vieler unterschiedlicher Personen möglich geworden ist. Und so freuen sich alle Beteiligten mit ihm übers Happy End.

1 In der Schweiz leben rund 1 Million Menschen mit einer Hörbehinderung, rund 10‘000 davon sind seit der Geburt gehörlos oder sehr stark schwerhörig (ca. 0,2 % der Bevölkerung). Fast alle nutzen in ihrem Alltag die Gebärdensprache. (Aus dem Factsheet des Schweizerischen Gehörlosenbundes SGB-FSS)

2 BZ: Tatjana Binggeli (bz Basel/Schweiz am Wochenende vom 28. Mai 2017: Porträt über Tatjana Binggeli*, Präsidentin des Schweizerischen Gehörlosenbundes SGB-FSS)


Regine Frey-Eichenberger
Autorin