Kopf, Herz und Hand

Portraitbild Regierungsrätin Martin Bircher

Bildnachweis: © Kanton Aargau | Beni Basler Aarau

Seit Beginn des Jahres ist Martina Bircher als Mitglied des Aargauer Regierungsrats im Amt und Vorsteherin des Departements Bildung, Kultur und Sport (BKS). Im Interview sprechen wir mit ihr über ihre ersten Erkenntnisse und Erfahrungen, über bewegende Begegnungen sowie spannende Rück- und Ausblicke. Dabei durften wir im Austausch eine inspirierende Kombination von Herzblut und praktischem Puls erleben.

Sie haben im Rückblick Ihrer ersten 100 Tage im Amt erwähnt, dass Sie in der Einarbeitungszeit viele Menschen kennengelernt haben – Menschen, die Sie bewegt haben. Eine Begegnung, die Sie besonders geprägt hat?
Da fallen mir gleich mehrere ein. Kürzlich habe ich mich bei einem Schulbesuch mit einem fünfjährigen Mädchen mit Autismus-Spektrum-Störung unterhalten. Ebenso beeindruckt hat mich ein Bewohner der St. Josef-Stiftung, der bei der Einweihungsfeier des Erweiterungsbaus als Moderator durch den Abend geführt hat. Eine letzte Begegnung, die ich hier teilen möchte, ereignete sich an einem Dorffest, an dem ich als Rednerin eingeladen war. Eine Bürgerin kam während des Anlasses auf mich zu und bedankte sich bei mir für meinen Einsatz zum Wohl des Kantons Aargau mit einer selbstgebackenen Rüeblitorte. All diese Begegnungen haben mich bestärkt, dass es wichtig ist, aufeinander zuzugehen, füreinander da zu sein und sich für das Wohl der Gemeinschaft einzusetzen.

«Es ist wichtig, sich für das Wohl der Gemeinschaft einzusetzen.»

Auch in der Stiftung Wendepunkt stehen Menschen im Mittelpunkt. Menschen mit Lebensgeschichten. Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Menschen, die wir in der beruflichen und sozialen Integration begleiten, damit sie nach ganz unserer Vision «Wendepunkte erleben».

In Ihrem Leben sind Sie auch immer wieder Widerständen begegnet – und haben in einem Interview gesagt: «Unterschätzt zu werden – d’Gschicht vo mim Läbe». Das kennen auch viele der bei uns beschäftigten Menschen. Was war Ihr Wendepunkt? Ermutigende Worte?
Unterschätzt zu werden, ist tatsächlich „d’Gschicht vo mim Läbe“. Das war schon zu meiner Schulzeit so. Mein damaliger Lehrer wollte mich in die Realschule einteilen, weil er meinte, ich würde ohnehin Hausfrau und Mutter werden. Und dann gab mir meine Hauswirtschaftslehrerin die Note 6, weil ich mit der gelben Kochschürze ein wahrer Sonnenschein sei und in der Zukunft eine perfekte Hausfrau abgäbe. Später wurde ich als Politikerin unterschätzt. Das Gemeinderatsmandat wurde mir nicht zugetraut und es gab sogar Wetten, wie lange ich durchhalten würde. Auch beim Regierungsratswahlkampf im vergangenen Jahr gab es Stimmen, die behaupteten, ich würde die Wahl sowieso nicht schaffen. All das hat in mir einen Reflex ausgelöst, und ich dachte mir jedes Mal: „Denen werde ich es beweisen.“ Also strengte ich mich noch mehr an, lernte noch mehr und arbeitete noch mehr.

Sie schätzen, dass Sie in Ihrem Departement Professionalität erleben und Werte wie Zuverlässigkeit, Loyalität und Ehrlichkeit gelebt werden. Was ist Ihnen in der Führung von Mitarbeitenden wichtig?
Mir ist es wichtig, trotz intensiver Arbeitstage immer Zeit für die Menschen zu finden und ihnen zuzuhören. Als Führungsperson begegne ich allen Mitarbeitenden des Departements mit Respekt, unabhängig ihrer Position. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter ist genauso wichtig für den Erfolg, wie ich es als Departementsvorsteherin bin. Ich sehe mich als Teil des Teams und führe auch so.

Als Macherin, wie zeigt sich Ihre lösungsorientierte und pragmatische Art in der Herangehensweise bei neuen Aufgaben und Projekten? Wie treiben Sie Themen mit dem Team zusammen voran?
Ich bin direkt und sage klar, was ich möchte, und wohin ich möchte. Verantwortung übernehmen heisst für mich, Entscheidungen zu treffen. Dafür brauche ich Fakten. Ich reflektiere mich stets selbst, denn auch ich mache Fehler, doch das bringt mich sogar weiter – schliesslich wird niemand perfekt geboren. Auch Mitarbeitende sollen Fehler machen. Mir ist lieber, jemand setzt eine Idee um, selbst wenn sie nicht perfekt gelingt, als aus Angst zu versagen, im Stillstand zu verharren.

Ein Ziel beim Lehrpersonal lautet, Reduktion von administrativen Tätigkeiten dank der Digitalisierung für mehr Zeit am Auftrag und den Kindern. Ein Bedürfnis, das wir auch bei unserem Auftrag mit Klienten feststellen. Was sehen Sie für unser Tätigkeitsgebiet?
Wie in der Schule zeigt sich auch bei der Betreuung und Unterstützung von Menschen mit Behinderung, dass die Qualität von der Zeit im direkten Kontakt abhängt.  Auch im Tätigkeitsgebiet der Stiftung Wendepunkt geht es darum, dass die Mitarbeitenden möglichst viel mit den Menschen arbeiten können, die Unterstützung brauchen. Technische Hilfsmittel wie KI können Vorbereitungs- und Überwachungsarbeiten erleichtern. Hier sehe ich ein beträchtliches Potential, um die Begleitung qualitativ weiter zu verbessern. Und ich weiss, dass dies der Stiftung Wendepunkt wichtig ist, denn ich kenne sie aus meiner Zeit als ehemalige Sozialvorsteherin von Aarburg. Damals habe ich regelmässig mit ihr zusammengearbeitet. Sie war stets eine wertvolle Unterstützung, um die Klientinnen und Klienten auf ihrem Weg zu begleiten. An die unkomplizierte und angenehme Zusammenarbeit erinnere ich mich immer wieder gerne zurück.

«In der Betreuung und Unterstützung von Menschen hängt die Qualität von der Zeit im direkten Kontakt ab.»

Aktuell läuft ein Pilotprojekt zu «Subjektfinanzierung», wodurch Menschen mit Beeinträchtigungen mehr Handlungsmöglichkeiten und Selbstbestimmtheit verschafft werden soll. Diese können über die Form der Unterstützung und Wahl der Einrichtungen selbst entscheiden. Worin liegen aus Ihrer Sicht die Chancen aber auch die Herausforderungen im Praxisbezug?
Mit der Subjektfinanzierung werden die Betroffenen direkt finanziert. Damit können sie selbst bestimmen, wer sie wie betreut und unterstützt. Mit der Abklärung des Unterstützungsbedarfs wird sichergestellt, dass die Betroffenen die geeignete Unterstützung erhalten, wenn sie diese benötigen. Um die Praxistauglichkeit des Modells der Subjektfinanzierung zu prüfen, wird seit Anfang 2025 ein Pilotprojekt durchgeführt. Auf diese Weise können wichtige Erkenntnisse und ein besseres Verständnis der Direktbetroffenen gewonnen werden. Erste Erfahrungen zeigen, dass die Wohnungssuche sowie die Balance zwischen administrativer Entlastung und Selbstbestimmung anspruchsvoll sind.

In der Stiftung Wendepunkt bieten wir diverse Angebote für Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger und deren Integration an. Als Vizestadtpräsidentin von Aarburg haben Sie die Sozialhilfebezüger-Quote signifikant gesenkt. Was ist im Rückblick Ihre grösste Erkenntnis und was würden Sie anders machen, wenn Sie nochmals am Anfang stehen würden?
In Aarburg habe ich als Vizestadtpräsidentin die Strategie „Hart aber fair“ eingeführt. Sie soll die Menschen zugleich fördern und fordern. Dieser Schritt war richtig. Vorher beobachtete ich viel, dass die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter unter Hilfe verstanden, alles für die Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger zu erledigen – beinahe bis an die Grenze der Abhängigkeit. Das ist für mich falsch verstandene Hilfe. Für mich heisst Hilfe, klar aufzuzeigen, wo die Grenzen sind und was im Gegenzug zur finanziellen Unterstützung erwartet wird.

Im Nachhinein würde ich die Personalführung anders gestalten. Anfangs hatte ich kaum Bewerbungen auf offene Stellen und stellte deshalb teilweise Personen ein, die mich nicht überzeugten – Hauptsache, die Stelle ist besetzt, dachte ich. Das war nicht optimal, denn dadurch habe ich neue Probleme geschaffen. Heute besetze ich eine Stelle nur dann, wenn mich eine Bewerberin oder ein Bewerber überzeugt. Und sonst lasse ich die Stelle lieber unbesetzt. Man muss manchmal auch Mut zur Lücke haben.

Wo sehen Sie aus Ihrer Erfahrung generell noch Potential in der beruflichen und sozialen Integration – im Sinne von «Fördern, aber fordern»?
Heute gibt es so viele Angebote, dass niemand mehr den Überblick hat. Hier liegt meines Erachtens das Problem. Genau deswegen kann nicht gewährleistet werden, dass eine hilfebedürftige Person zur richtigen Zeit das richtige Angebot findet und am richtigen Ort ist. Hier braucht es neben der Förderung von Potenzialen in der beruflichen und sozialen Integration vor allem übersichtliche Strukturen. Und gleichzeitig muss klar sein: Wer gefördert wird, trägt auch die Verantwortung für den eigenen Weg und muss seinen Beitrag dazu leisten.

«Es braucht neben der Förderung von Potenzialen in der beruflichen und sozialen Integration vor allem übersichtliche Strukturen.»

Der Bildungsauftrag legt die Basis, dass sich Kinder künftig erfolgreich in der Gesellschaft und der Arbeitswelt entfalten können. Wir stellen ein wachsendes Bedürfnis an Angeboten für Jugendliche mit psychischen Beeinträchtigungen fest. Was braucht es aus Ihrer Sicht in der Zukunft, damit diese Entwicklung nicht weiter zunimmt?
Mein Motto lautet: „Jedes Kind zur richtigen Zeit in der richtigen Klasse“. Dafür braucht es meiner Meinung nach mehr Flexibilität und Durchlässigkeit im Bildungssystem sowie differenzierte Förderangebote. Im Klassenzimmer sollte ein gesundes Lernklima vorherrschen, wo sich die Schülerinnen, Schüler und die Lehrpersonen mit Anstand, Respekt und Toleranz begegnen. Nur so entsteht eine förderliche Atmosphäre. Dazu trägt auch das Handyverbot bei, das seit Beginn des neuen Schuljahres an Aargauer Volksschulen herrscht – und ich sage dies, obwohl ich eine grosse Anhängerin von Eigenverantwortung und gegen ein zu grosses Eingreifen des Staats bin. Doch dort, wo die ganze Gesellschaft mit rasanten Entwicklungen wie dem technologischen Fortschritt konfrontiert ist und sich diese Eigenverantwortung noch nicht entwickelt hat, ist es sinnvoll, wenn der Staat klare Regeln als Orientierungshilfe vorgibt. Der Aargau war der erste Kanton, der ein solches Verbot eingeführt hat. Und das Fazit ist bis jetzt äusserst positiv. Auf dem Pausenplatz pflegen die Schülerinnen und Schüler wieder soziale Kontakte, anstatt auf ihre Smartphones zu starren. Auch der Unterricht wird nicht länger durch Handys gestört.

Zu guter Letzt: Einer Ihrer Stärken ist, Kopf, Herz und Hand in einer Person zu vereinen. Das kann auch zu Spannungen im Alltag führen. Wie halten Sie die Balance?
Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, mich abzugrenzen. Man sollte auch nicht alles allzu ernst nehmen und sich selbst nicht für zu wichtig halten. Eine Prise Humor schadet nie. Schlussendlich muss man das, was man macht, mit Überzeugung machen. Am wichtigsten ist aber, Menschen um sich zu haben, die Halt geben und unterstützen.

Regierungsrätin Martina Bircher, wir danken Ihnen für diesen inspirierenden Austausch und wünschen Ihnen weiterhin viel Weisheit, Stärke und wirkungsvolle Begegnungen in Ihrem Unterwegssein.

Zur Person
Martina Bircher (41) ist seit Januar 2025 Mitglied des Aargauer Regierungsrats und Vorsteherin des Departementes Bildung, Kultur und Sport. Zuvor war sie Vize Ammann der Gemeinde Aarburg (2018 – 2024), Gemeinderätin Aarburg (2014 – 2024), Mitglied des Grossen Rats (2017 – 2019), Nationalrätin (2019 – 2024) sowie Mitglied der Staatspolitischen Kommission SPK (2019 – 2024) und der Sozial- und Gesundheitskommission SGK (2023 – 2024). Die SVP-Politikerin blickt auf ein beachtliches politisches Engagement zurück. Sie studierte Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Controlling und ist Mutter eines Sohns. Um den Kopf zu lüften und neue Energie zu tanken, setzt sie sich an die Nähmaschine oder geht mit ihrem Partner tanzen. Home – Regierungsrätin Martina Bircher

Departement Bildung, Kultur und Sport (BKS) des Kantons Aargau
Die kantonale Verwaltungseinheit ist für alle Aufgaben in den Bereichen Grund-, Beruf- und Hochschulbildung sowie für die Förderung von Kultur und Sport zuständig. Teil des BKS ist auch die Abteilung Sonderschulung, Heime und Werkstätten, die sich mit rund 80 Aargauer Einrichtungen für die Unterstützung, Begleitung und Förderung von Menschen mit Beeinträchtigungen einsetzt, damit diese möglichst selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben können. Departement Bildung, Kultur und Sport – Kanton Aargau


Simone Frei
Leitung Unternehmenskommunikation